Mama Etna

P1000970.jpg
DSC02118.jpg
DSC02054.jpg
BB390C2C-B075-49E4-9C31-7E8C3E067F51.jpg

Die Schönheit der Küste südlich von Neapel bringt uns zum Singen, steil fällt der Blick ins Blau. Weite, so weit das Auge reicht und immergrüne Orangen - und Zitronenhaine. Vor Sapri fahren wir zwei Tage ins Landesinnere durch eiskalte Schluchten bergauf. Die Handschuhe, die schon überflüssig geglaubt und tief unten in der Tasche verstaut sind, kramen wir hervor. Wir fahren doch südwärts, denken wir in der eisigen Kälte, was ist denn jetzt los? Das Zelt ist am Morgen weiss vor Reif. In den Bergdörfern kommt es zum Gespräch. Wie schnell es vom Wetter abtreibt und persönlich wird. Einmal ruft uns jemand von der Strasse in seinen Garten. Wir hören eine Schilderung der Landschaft und es steigen Griechen, Sarazenen, Normannen auf, überall Spuren und Relikte, wir laufen auf den Toten. Haben wir schon einmal so begeistert über Luzern gesprochen? Zurück in die Wärme! Wir fahren in wenigen Tagen der Küste entlang nach Villa S. Giovanni und setzen über nach Messina. Wenn wir nach sizilianischer Einschätzung unsere Überfahrt betrachten, bringt uns die Fähre nicht in den Süden Italiens, sondern in den Norden Afrikas: Sizilien.

5DF98741-9D8D-486C-A3A1-0F132ECB1489.jpg

Eine Zitrone zum Frühstück geschält und beim Geruch gedacht, mit ihr und ihrem scharfen und frischen Geruch endet alle Muffigkeit und Enge. 

Vor einer Bar sitze ich und gebe unter keinen Umständen meinen schon leeren Kaffeebecher weg. Er gibt mir das Recht, ohne Maske im öffentlichen Raum zu sein. Herrliches Atmen. 

Messina, Catania, Siracusa. Geschenke immer wieder Geschenke, ein Bauer läuft mit uns über sein Feld, wählt die besten wilden Chicorées aus, da nehmt!, ein anderer führt uns mit in sein Artischockenfeld und beschenkt uns, ein Engländer lädt uns in Siracusa zum Bier und Kaffee auf seine Dachterasse. 


DSC02160.jpg

Wie wäre es, wenn alles wäre ohne Angst, wenn nicht der Vesuv abgesperrt wäre, die Götter nicht geschlossen wären, die Tempel und archäologischen Parks Paestum, Pompeii, Agrigento, offen wären?

DSC02142.jpg

Eine Frau läuft auf dem Balkon in Catania und prüft die Trockenheit ihrer Wäsche. Dabei hören wir die feine schwarze, körnige Asche unter ihren Pantoffeln. Ganz Catania ist überzogen von einer Ascheschicht. Von Flachdächern über uns wird die Asche gefegt, sie rieselt von Mauersimsen und aus Blüten und fällt auf weisse Autolackschichten, kriecht in die Schuhe und knirscht im Mund. Mama Etna!, lacht mich einer an, als ich frage, ob sie nie Angst hätten vor fliegenden Steinen und Lava. Nie hätten sie Angst vor dem Berg, vor Mama Etna. Wir zelten in der Nähe des Kraters und hören in der Nacht 4 Stunden lang das Donnern und Knallen der Eruptionen, im Schlaf noch für Gewitter gehalten, sehen wir die Steine glühend durch die Luft fliegen und die Lava hoch über den 3300 Meter hohen Gipfel aufspritzen.

Für den Aufstieg zum Etna brauchen wir zwei Tage und unser Zwischenlager liegt auf 1100 Meter. Supergau, ich habe ein Drittel der Zeltstangen am letzen Zeltplatz vergessen. Autsch, das tut weh. Es dämmert bereits und es schneit. Der Holzrahmen für die Leinwände wird umfunktioniert und spannt nun einen Teil des Zelts rechteckig. Der junge Belgier, den wir in Messina wieder getroffen haben und der viel schneller als wir unterwegs ist, holt am nächsten Tag für uns die Zeltstangen. Grazie mille!

502FF21C-4C8D-4EE3-8772-08D8733325C0.jpg

Der Anspruch, dass die Malfahrt auch ein Versuch ist, meine Malerei zu radikalisieren, bekommt eine neue Qualität. Radikal malen bedeutete bisher, alles für den Inhalt geben, das Repräsentative wegzulassen, die gängigen Materialien oder Malweisen zu ändern, wenn es das Motiv oder die Stimmung erforderte, Bildträger teilweise anzureissen, über das Aquarell mit der Zunge zu schlecken, wenn Bildteile verschwimmen sollten oder mit den Fingernägeln die Farben aufzukratzen. Alles für das Motiv, nichts für das, was man so macht. Und es bedeute auch, auf der Suche nach der malerischen Identität den Schwarm der Vorbilder zu verscheuchen. Heute kommt eine neue Facette des radikalen Malens hinzu. Jetzt heisst radikal malen auch keine Zensur. Radikalität als ein Mehr an Zulassen. 

Mit einem Bildmotiv im Kopf baue ich an einem windigen Tag im Landesinneren die Leinwand auf. Ich muss sie wie ein Segel in den Wind stellen, damit sie dem Wind möglichst wenig Angriffsfläche bietet. Ich fühle mich stark, weil ich trotz stürmischem Wetter und drohenden Regenwolken alles auspacke. Ich beginne mit Schwung. Die Leinwand flattert im Wind und drückt sich immer wieder gegen den Pinsel - wirst du lebendig? Dann fliegt alles um, ich fluche. Wenn die Leinwand jetzt schon mit der bemalten Fläche auf dem Boden liegt, auf Erde und Gras, dann mache ich so weiter. Ich drücke die Leinwand auf den Boden und presse den Boden ab, drehe sie um und werfe Erde darüber, ich lösche sie ab. Dann erneut aufgespannt und das Bild wieder angeschaut. Auch mein Kraftakt mit der Erde macht das Bild nicht besser. Ich merke heute geht gar nichts mehr. Zu siegessicher habe ich mich auf die Leinwand gestürzt, ohne Prüfung, ob meine Idee was taugt. Das immerhin weiss ich jetzt: So kann ich meine Idee Haus unter Zitronen nicht umsetzen. Ich rolle alles ein, aber es gibt wirklich Schlimmeres, als eine vermalte Leinwand und das momentane Unvermögen auszuhalten. Am nächsten Tag, bei Windstille und Wärme, beginne ich erneut und es gelingt. Malen ohne Geländer ist immer grosses Glück.

A59BFAFF-B503-4896-B227-24CC4CF1F5AD.jpg
DSC02102.jpg

Der Apollotempel mitten in Siracusa. Zwei Säulen, gewaltige Zylinder verbunden von einem horizontalen Quader fordern uns auf, in ein anderes Denken zurückzukehren. Der Verfall zeigt nicht mehr alles, nimmt die Steine aus ihrer gedachten Form und zieht sie hinter die Sichtbarkeit -  in den Geheimniszustand.

P1000994.jpg

Wir haben zwei Freundinnen aus Luzern, die seit Monaten auf Sizilien leben und reisen. Eines Tages treffen wir sie und bestaunen u.a. die ausserordentliche Fähigkeit der beiden Frauen, wunderbare Orte zu finden, an denen sie leben, arbeiten und geniessen. Mit Sekt werden wir begrüsst und reden bis weit unter die Sterne. Wir zelten am Meer und haben in den Ohren Brandung und krass lauten Grillengesang. 

In Selinunte verbringen wir zu viert den sizilianischen Osterlockdown und gehen durch ein Blütenmeer. Ganz Selinunte ist im Lockdown? Nein. Ein Wirt vertraut auf seinen Anwalt und schert sich nicht um die verordnete Schliessung seines Restaurants. Hier essen die Leute alle unter einem Dach, direkt am Meer. Einmal dann taucht die Polizei auf und der Wirt gibt uns das Zeichen, eine leicht verdeckte Handbewegung und der Raum leert sich schlagartig. Die Leute laufen mit Cocktailgläsern in der Hand an den Strand. Für den Rest des Abends bleibt das Restaurant geschlossen. 

DSC02288.jpg
9404122C-FE2C-45F8-9620-E27050DB50A1.jpg

Mit dem Abbilden eines Motivs befinde ich mich im Vorhof der Malerei. Der Versuch der genausten Abnahme bedeutet glückliche Verbindung mit dem Aussen und berauschendes immer mehr Sehen. Die Farben werden als Werkzeug der Nachahmung verwendet. Jedes Abweichen, entweder durch unpräzises Sehen oder durch bewusstes Zusammenfassen und Auswählen des Beobachteten, führt mich zu mir und in die Erfindung. Brauche ich hingegen die Farben als Transmitter, als Boten, befinde ich mich mitten in der Malerei und male eine Welt jenseits der Beschreibung und der Narration.

303139C4-0C99-4E48-9D24-52EBEB563586.jpg
655E48CF-72D1-4827-84E7-879CF6F71B7D.jpg
FBD45F67-1DE7-4143-A77C-359C8117CFB7.jpg
1F0172ED-49B5-4116-8F5D-CB16C8C11613.jpg

Wir entdecken in den Gassen Palermos Paläste, Kirchen wie Festungen, freie Plätze und Dattelpalmen. Endlich auch Menschenansammlungen in langen Marktgassen. Wir saugen das Geschrei der Händler*innen und das Völkergemisch dankbar auf. In unseren Gesprächen hören wir immer dasselbe. Wir, als Touristen*innen, sind für sie einerseits Erinnerung an die freie Zeit und anderseits auch Hoffnung, dass es besser werden kann. Palermo liegt zurzeit in der roten Zone. Museen und Theater und Ateliers undundund sind zu und überall im öffentlichen Raum, drinnen und draussen, muss die Maske getragen werden. Mit uns, so sagen sie, käme ihnen der Mut zurück, wir wären endlich ein Kontakt nach aussen. Das bedeute für sie eine kurze Zeit des Aufatmens.

DSC02354.jpg

 Das Ende des ersten Teils der Reise kommt in Sicht. Wir sind in Palermo angekommen und haben Sizilien fast umrundet. Von Palermo nehmen wir die Fähre nach Genua und fahren über Locarno nach Luzern. Im August 2022 plane ich den zweiten Teil der Fahrt: Marokko, Mauretanien  und Senegal.

DSC02351.jpg
Achim Schroeteler